Neues Testament

Jens Herzer: Pontius Pilatus

Jens Herzer: Pontius Pilatus. Henker und Heiliger, Biblische Gestalten 32, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2020, Tb., 276 S., € 20,–, ISBN 978-3-374-06063-4

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Das Buch von Jens Herzer, Professor für Neues Testament an der Universität in Leipzig, einem ausgewiesenen Kenner der antiken Geschichte und Literatur, fällt in der beachtenswerten Schriftenreihe „Biblische Gestalten“ aus dem Rahmen. Die Herausgeber wollen eigentlich nur Persönlichkeiten der Bibel aufnehmen, doch mit Pontius Pilatus wird ein Heide vorgestellt, der seit dem Apostolischen Glaubens­bekenntnis der frühen Kirche eng mit dem Leiden und Sterben Jesu in Verbindung steht und sich so im „kulturellen Gedächtnis“ (9) der Glaubenden verankert hat und zu einer „bleibenden theologischen Herausforderung“ wurde (19).

Mit Pontius Pilatus präsentiert Herzer sein historisches und theologisches Fachwissen aus früheren Publikationen (Tübingen 2007) einer breiteren Leserschaft –­ neu aufgearbeitet, auf hoch informative, nahezu spannende Weise. Er wählt dazu eine dialogische Form, die den Rezensenten als Leser anspricht.

Das Buch ist dreifach gegliedert: Im 1. Kapitel knüpft Herzer in der „Einführung“ (11–25) am Glaubensbekenntnis an, in dem es ursprünglich um die Abwehr theologischer Positionen wie dem Doketismus und einem mystischen Verständnis des Erlösungsge­schehens ging. Gegen ein solches doketisches Verständnis verweist Herzer mit dem Credo 1Tim 2,5 auf den einen Gott und einen „Vermittler der Erlösung zwischen Gott und Mensch, nämlich ‚den Menschen Christus Jesus‘“ (15). Unabhängig von der abzuwehrenden Lehrform geht es Herzer bei der Frage nach der Bedeutung des Pilatus im Apostolischen Glaubensbekenntnis um die Verbindung der Leiden und Kreuzigung Jesu in den zeitlichen Abläufen der Weltereignisse. Deshalb wird dieses Passionsgeschehen seiner „historischen Zufälligkeit“ gleichsam befreit und gewinnt „in der vom Christusglauben bestimmten Geschichtsdeutung eine heilsgeschichtliche Bedeutung mit einem universalen Anspruch“ (15).

Der Untertitel des Buches „Henker und Heiliger“ ist bewusst übertrieben gewählt. Unter anderem sind es diese beiden janusköpfigen Eigenschaften von Pilatus, die Herzer differenziert und detailreich in den zahlreichen antiken Quellen zu dessen Persönlichkeit und seiner politischen Karriere als römischer Befehlshaber des Kaisers Tiberius herausarbeitet. Die Problematik besteht jedoch darin, bei historischen Überlieferungen das literarische Genre, den Charakter der jeweiligen Autoren und deren spezielle Interessen zu berücksichtigen. Während Flavius Josephus bekanntlich „tendenziell romfreundlich“ ist, verzeichnet Philo von Alexandrien „bewusst polemisch“ die Amtsführung des Präfekten (21). Darüber hinaus erarbeitet Herzer mit detektivischem Scharfsinn die historische Rückfrage zu Pilatus, indem er die Informationen von Josephus und Philo mit archäologischen Inschriften, etwa auf Münzfunden und Ringen, philologisch minuziös vergleicht. Auf die enorme Anzahl legendarischer Quellen, aus denen sich phantasiereiche Pilatusbilder entwickelt haben, geht Herzer speziell in Kapitel 3 ein.

Die skizzierten historischen Quellen werden im 2. Kapitel „Darstellung“ (26–216) mit Skizzen, Karten und Fotos illustriert und meisterhaft mit der detailreichen Biografie des Provinzstatthalters verarbeitet. Methodisch führt Herzer die außerbiblischen Quellen zusammen und vergleicht sie miteinander, um sie differenziert zu bewerten. Der daraus entstandene historische Befund wird mit den entsprechenden Belegstellen im Neuen Testament, vor allem in den vier kanonischen Evangelien und der Apostelgeschichte, kombiniert. Dadurch entstehen tiefere theologische und exegetische Einsichten.

Exemplarisch lassen sich Befunde zeigen, die laut Herzer einen „wichtigen Referenzrahmen“ (125) im Prozess des Präfekten gegen Jesus bilden. Die negative klischeehafte Denunziation von Philo ist nach Herzer kaum geeignet, um die Amtsführung und Persönlichkeit von Pilatus angemessen zu verstehen. Ein anderes Bild von Pilatus zeichnet Josephus, und zwar ein solches, das vom Provinzpräfekten aus Judäa in Konfliktsituationen zu erwarten ist: Loyalität dem römischen Kaiser gegenüber, Klugheit und eine auf Stabilität ausgerichtete Machtausübung. Als Indiz dieses Regierungsstils erwägt Herzer – einem neuen Ansatz der Datierung folgend – die lange und unübliche Amtszeit des Pilatus von „achtzehn Jahre(n)“ (57). Zudem berichtet er vom Bauprojekt der teuren Wasserleitung für Jerusalem, die Pilatus aus dem Tempelschatz finanzieren konnte, weil es zu Absprachen zwischen den jüdischen Verwaltungsinstanzen und dem Hohepriester kam. Pilatus zeigt damit sein kluges Kooperationsgeschick (61–73). Ein weiteres Szenario berichtet, was geschieht, wenn die politische Machtposition von anderen abhängt.

Die durch den verliehenen Ehrentitel „Freund des Kaisers“ (amicus Caesaris) belegte Loyalität des Pilatus gegenüber dem Kaiser schützt in der dramatischen Szene der Kreuzigungsforderung nicht vor der erpresserischen Frage der Juden (bei Herzer die „Jerusalemer Oberpriester“): „Wenn du diesen (Jesus) freilässt, bist du kein Freund des Kaisers“ (Joh 19,12). Nun kommt zur Angst des Pilatus (Joh 19,8) auch noch der massive Druck, das Privileg zu verlieren, „Freund des Kaisers“ zu sein, was auf eine „ernsthafte politische Gefahr“ für ihn deutet (197).

Mit solchen breit ausgeführten Schilderungen werden die Leser sowohl in die charakterlichen Studien zu Pilatus als auch in die Stimmungslage der damaligen Umstände hineinversetzt. In diesen anschaulichen Berichten besteht eine weitere Stärke des Buches: Neutestamentliche Zeitgeschichte wird lebendig.

Theologisch zu hinterfragen ist dagegen Herzers hermeneutischer Ansatz. Während die Bezeichnung „literarisch gestaltete Fiktion(en)“ für die vielfältigen Quellentexte berechtigt ist, stellt sich eine erste Rückfrage an den Autor, wo solche Wendungen auch für Passagen aus den vier kanonischen Evangelien reklamiert werden. So spricht Herzer von der „literarischen Fiktion der Pilatusfigur“ (40) und dem „literarische(n) Pilatus der Evangelien“ (72) sowie von „literarischer Auseinandersetzung“ (197) im Johannesevangelium. Noch spezieller postuliert Herzer im Lukasevangelium gegenüber einem schwachen Provinzpräfekten einen, der „auch gefährliche Situationen in den Griff bekommt, auch wenn dies letztlich nur auf der literarischen Ebene in dieser Form ‚funktioniert‘“ (189). Die Darstellung des Pilatus von Herzer führt folgerichtig aus, was Plutarch mit seiner Äußerung zur untergeordneten historischen Korrektheit jeder Überlieferung – demnach auch die der Evangelien – zu Beginn des Buches aussagt (20). Herzer wählt sich zu seiner Argumentation jedoch den falschen Kronzeugen aus, denn Plutarch, war zwar bekanntermaßen ein herausragender griechisch-römischer Schriftsteller, aber in erster Linie an vorbildlichen charakterlichen Biografiestudien interessiert, nicht an historischen Gegebenheiten. Plutarch war also kein Geschichtsschreiber. Bei den vier kanonischen Evangelien handelt es sich zwar auch um antike Biografien, doch gegenüber Plutarch ist festzustellen, dass die Evangelien besonders an der historischen Zuverlässigkeit interessiert sind. Eine weitere Unterscheidung besteht darin, dass Plutarch seine Biografien im griechisch-römischen Stil verfasste, die Evangelien aber in ihrem Stil die semitisch-jüdische Geschichtsschreibung nutzen.

Eine zweite Rückfrage stellt sich zur tendenziösen Darstellung der vier Evangelisten. Das heißt, wie deuten ein Matthäus, Markus, Lukas und Johannes das, was sie vom historischen Pilatus wissen, vor dem Horizont ihres Glaubens an Christus (ihrer Glaubensbrille)? Versteht Herzer die vier Evangelisten so, dass sie kein (kaum) historisches Geschehen festhielten, sondern ihr bestimmter Christusglaube ihre Darstellung beeinflusst hat – was nach Herzer einer vom „Christusglauben bestimmten Geschichtsdeutung“ entspräche? (15). Es stimmt, dass das Handeln und Wirken von Pilatus dadurch, dass die Evangelisten es als ein historisches Faktum in ihre Evangelien aufnehmen, eine heilsgeschichtliche Bedeutung erhält. Was in der Studie unerwähnt bleibt, sind neuere Forschungen, wie etwa die von Rainer Riesner (2019) zum ganzen Themenkomplex der historischen Zuverlässigkeit der Evangelien im Bezug zu den Augenzeugen, zur apostolischen Herkunft der Evangelien und den Aussagen der Kirchenväter.

Anders ausgedrückt: Es geht um die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien und um die Art, wie sich Gott in ihnen offenbart hat. So offenbart sich Gott nicht nur in Jesus Christus, sondern auch durch seine vier kanonischen Evangelien in unterschiedlichen literarischen Genres und mit sich ergänzenden theologischen und historischen Akzentuierungen. Mehr noch, und hier umschreibt es Herzer ähnlich (192): Gottes vorherbestimmtes Handeln offenbart sich und nutzt politische und jüdische Systeme und deren Autoritäten, um seine Heilsgeschichte für die Menschen zum Ziel zu führen. Und ja, faktisch hat Pontius Pilatus Jesus, den Messias, hingerichtet und ist dafür verantwortlich, aber die „treibenden Kräfte (sind) die Oberpriester, die ‚das ganze Volk‘ manipulieren und instrumentalisieren“ (183, 193). Mit diesen wichtigen Erkenntnissen beantwortet Herzer seine Ausgangsfrage selbst, indem sich nun die „Spannung zwischen der historischen Verantwortung“ von Pilatus und der „heilsgeschichtlichen Bedeutung seiner Entscheidung“ (19) als untrennbar erweist.

Schließlich entfaltet Herzer im 3. Kapitel „Wirkung“ (217–260) die komplexe Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Pontius Pilatus. Die enge Nahtstelle zwischen Pilatus, der nach Wahrheit suchte, und der Jesusgeschichte, hat seit jeher auch die fromme Legendenbildung angeregt, die Herzer, wie seine gesamte Pilatusbiografie, in hervorragender Weise akribisch erforscht. Auch wenn das legendarische Pilatusbild keine historische Rückfrage erlaubt, differenziert Herzer dessen Wert für den Einfluss auf die Wirkungsgeschichte. So spannt Herzer einen weiten Bogen von den frühchrist­lichen Überlieferungen, über die „Pilatuslegenden“, die ihn als „Märtyrer und Heiligen“ beschreiben, zur mittelalterlichen Kunst, bis hin zur zeitgenössischen religions- und medienpädagogischen Wirkungsgeschichte. Dabei spielt auch die Frau von Pilatus eine wesentliche Rolle.

Der Stil des Buches ist populärwissenschaftlich, was aber nicht die wissenschaftliche historisch-theologische Qualität der Studie schmälert; so zitiert Herzer beispielsweise die wesentlichen Quellentexte stets an geeigneter Stelle im Buch wörtlich.

Die Studie endet mit einem nach Kategorien unterteilten Literaturverzeichnis und einem Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis (261, 276). Formales: Leider erschwert Herzer das Lesen dadurch, dass er seine wertvollen Querverweise nur mit Kapitelabkürzungen angibt, was ein aufwändiges Blättern erfordert, anstatt mit Überschriften und Seitenangaben. Die Qualität der meisten Fotos entspricht drucktechnisch nicht dem Standard. Zuletzt fällt die Wiederholung der Themenfelder auf, die der Autor in Kauf nimmt, weil er die historischen Quellen aus unterschiedlichen Blickwinkeln behandelt. Das Buch eignet sich für alle Leser, die sich für neutestamentliche Zeitgeschichte interessieren, insbesondere aber auch für Dozenten, Studierende und Religions­pädagogen.


Dr. Manfred Baumert, Dozent, Supervisor University of South Africa/Department of Philosophy, Practical and Systematic Theology und International Seminary of Theology and Leadership, Zürich/Freiburg